Die geschichte einer Symbiose

Vor fünf Jahren entkam Stephan Marti nur knapp dem Tod. Aufgrund eines Multiorganversagens setzte ein Organ ums andere aus. Nun baut der Vermögensverwalter ein jahrhundertealtes Haus wieder auf, wie auch seinen eigenen Körper.

Auf die alte Hammerschmitte im aargauischen Schmiedrued, einer Ortschaft so tief im Hinterland, dass sich dort die Welt verliert, fällt an diesem Montag nur Regen. In den dunklen Ecken des Hauses stapeln sich Stühle. Durch die zugedeckten Fenster an der Vorderseite des Hauses, das einer Gemeinde den halben Namen gab, dringt wenig Licht. Auf dem Wohnzimmerboden liegen Holzlatten, an den aufgerissenen Wänden säumt Morast die Leisten. Es riecht nach Lehm, nach Jahrhunderten. Käme jemand und setzte sich in die Düsternis, fühlte er sich weit weg von allem, in einer Höhle fernab der Zeit.

Stephan Marti, der Mann, der an manchen Tagen selbst kaum glaubt, hier zu sein, steigt die Treppen hinunter in den Weinkeller, der überflutet wurde, während er im Spital dem Tod nahe war. Er führt durch die Räume im ersten Stockwerk, die alle abgedunkelt vor sich hin warten, bis jemand kommt und sie bewohnbar macht.

Auf dem Dachboden schliesslich, einem riesigen, abgeschrägten Raum, blickt Marti mit einer seltsamen Zufriedenheit um sich. Wie das restliche Haus ist es hier chaotisch, unbequem. Dutzende Kisten und Bretter liegen herum, das Dach ist kaum isoliert, sodass der Regen fühlbar durch die Ritzen dringt. «Ob ich mit dem Haus jemals fertig werde, weiss ich nicht. Es gibt noch so viel zu tun.» Aber wenn Marti das sagt, freut er sich dabei auf die Arbeit, die noch vor ihm liegt. Das Haus ist zu seiner Arche geworden.

Die Geschichte von Stephan Marti, dem Vermögensverwalter, und seinem 686-jährigen Haus, ist die Geschichte einer Symbiose. Beide drohten sie zu zerfallen, zu zerbröckeln, als Gegenstände zu verschwinden. Und doch sind beide noch hier, oftmals selbst daran zweifelnd. Sie erneuern sich gegenseitig.

«Das Herz flackerte»

Im Juni 2009 beschliesst Stephan Martis Körper, die Lebensleitungen zu kappen. Innert kurzer Zeit geben seine Organe ihre Funktion auf, Lungen, Leber und Nieren kommen zu einem Halt und müssen mit Maschinen betrieben werden. – «Das Herz funktionierte noch, aber es flackerte, sagte man mir», so Marti, den das Multiorganversagen (Mods; siehe Box) fast umgebracht hätte.

Der 59-Jährige sitzt nun in seiner Küche auf einem Hocker ohne Lehne. Sein Rücken ist gerade durchgestreckt, er wirkt gefasst und klar. Von Zeit zu Zeit jedoch, wenn Marti ganz nahe an seinen Erinnerungen ist, wenn sein Blick sich verliert und er für einen Augenblick wieder in jenem Körper steckt, der dazumal beinahe zum Stillstand kam, dann wird er weich und driftet ab.

Ausgelöst durch den Infekt einer nicht diagnostizierten Leukämie, fühlte sich Marti im besagten Juni immer schwächer. Als der Arzt ihm sagt, er müsse sofort ins Spital, ist Marti noch unbesorgt. Er betritt die Notfallstation des Spitals Aarau, wo seine Erinnerungen abbrechen. Sieben Wochen liegt er im künstlichen Koma, durchflutet von Medikamenten, während in seinem Haus, das herrenlos in einem Seitental wartet, ein Bergbach still durch die Wände fliesst. Eine Zeit, die Marti nur innerlich erlebt, als blinder Fötus, während sein Körper einen Kampf gegen die Medizin austrägt und sein Bewusstsein sich in einem zeitlosen Raum gefangen findet.

Wie in einem Zelt habe er gelegen, erinnert sich Marti. «Alles wirkte wie ein langer, endlos erscheinender, langweiliger Traum.» Er kann sich nicht bewegen, hört die Menschen nicht, die ausserhalb dieses Zeltes existieren. Blind liegt er in dessen Ecken, wird plötzlich herumgeworfen, klebt mal an der Decke, mal am Boden, mal an der Wand, wie er sagt. Er fühlt sich als Spielball, ohne jegliche Macht sich zu bewegen oder aus der Dunkelheit zu entfliehen. «Du hörst nichts, siehst nichts, kannst nicht sprechen und dich nicht bewegen. In diesem daseinsisolierten Zustand überlegst du dir dann, wie es wohl weitergeht.»

Jahrzehnte in der Dunkelheit

Das Haus, in dem Stephan Marti Stück für Stück ein neues Leben die Wände hoch zieht und über die Böden wirft, stand selbst lange in der Dunkelheit. Jahrzehntelang liess der vorherige Besitzer, ein Patentanwalt aus Genf, die alte Schmiede in diesem Zwischenland der Kantone Luzern und Aargau liegen, nur beäugt von den Autofahrern auf dem Weg von einem Dorf in ein anderes, aber auch dann vielleicht nur als gleichgültiger Schwenk.

Im Innern lebte lange wenig, und noch immer scheint es, als streiche eine dumpfe Monotonie gestört den Wänden entlang, wenn Marti im Wohnzimmer mit gebeugtem Rücken zur Arbeit geht.

Seit 2008 rüttelt und zimmert er hier, im Wohnzimmer, im Keller, in den oberen Stockwerken. Bei der Küche begann er und schloss einen Grossteil ab, bevor ihn die Krankheit ergriff: «Die Küchengeräte waren 70 oder 80 Jahre alt. Der Feuerherd total verfault», sagt er. Nicht einmal aus seiner eigenen Kindheit habe er solche Geräte gekannt. Dann, Baum um Baum, schlug er im Garten das Haus aus dem Geäst, brachte Licht an die Wände zurück und verbannte den japanischen Knöterich, der die Umgebung einem Urwald gleich machte.

Nur Papier und Zahlen

Die Geschichte von Stephan Marti und seinem Haus ist die Geschichte von zwei Gleichen, die Verschmelzung von zwei Regenerierenden. Sie zeigt den Sinn des «etwas Erschaffens», sagt Marti selbst, in der Küche seines Hauses, die keinen Luxus beherbergt.

«Täglich hatte ich stundenlang gearbeitet – aber Ende Jahr, wenn ich auf das zurückblickte, was ich all die Monate geleistet hatte, sah ich nichts Handfestes, nur Papier und Zahlen.» Nun hat der Vermögensverwalter in diesem Haus ein konstantes Werk gefunden. Die Distanz zum alten Beruf ist ihm recht, auch wenn er ihn nicht komplett aufgeben will.

Seine Erkrankung sieht er als eine «Konjunkturkrankheit»: grosser Druck, kurzweiliger Lebensstil. Das Tempo der Tage. Bis der Körper die Kooperation versagt. Ein Geist alleine ist nicht lebensfähig, weiss Marti heute.

Im Spätherbst 2009, fünf Monate nachdem Marti nach medizinischer Wahrscheinlichkeit bereits tot sein müsste, tritt er aus der Klinik Barmelweid an die kühle Luft. Von den Schläuchen hat er Schlitze im Körper, und sein Gehirn, das von den sieben Wochen im Koma noch jahrelang getrübt sein wird, verliert auf der umwaldeten Lichtung teilweise den Fokus.

Er driftet dann ab, driftet von damals bis heute. Von der Lichtung der Barmelweid in die Küche der Hammerschmitte, in der er während seiner Schilderungen so oft die Erzählrichtung verliert, teilweise an Erinnerungen hängenbleibt, wie das Haus über all die Jahre an der Dunkelheit des regnerischen Tals.

Marti, der Unternehmer, der seit seinem Studium gespart hat, um sich Dinge zu ermöglichen, wie er sagt, spart nun nicht mehr mit der Zeit, sich Gutes zu tun. Ein nachdenklicher Mann, der den Fokus von lukrativen Geschäften auf die eigene Gesundheit gerichtet hat. Auf seine Arche, sein Haus und die verbleibende Zeit. Fragt man ihn, wie lange die ganze Renovation dauern wird, antwortet er ungewiss, als meide er den Gedanken der Fertigstellung, wie er an manchen Tagen den Gedanken an ein Neuaufflammen der Leukämie meidet. «Meine Partnerin meint, ich müsse 120 Jahre alt werden.»


Multiorganversagen (Multi organ dysfunction syndrome, Mods) ist keine Seltenheit. Es beschreibt das sequenzielle Versagen verschiedener lebenswichtiger Organsysteme des Körpers und tritt als Komplikation schwerer Erkrankungen auf, wie beispielsweise einer Blutvergiftung (Sepsis, Entzündungsreaktion nach Infektion durch Bakterien, Toxine oder Pilze). Erste Anzeichen dafür können Kreislaufversagen sein, danach folgen beliebige weitere Organe, wobei die Nieren und das Gehirn am meisten betroffen sind. Gemäss Stephan Marsch, Chefarzt Intensivmedizin des Universitätsspitals Basel, nimmt die Überlebenschance mit steigendem Alter ab, weshalb der Patient zur Schonung des Gehirns und zur psychischen Entlastung meist in ein künstliches Koma versetzt wird.